matthias franke | 25.02.1997

Der Brüller

Marburg am Freitag den 21.2.1997 um 15.20

Es ist recht stürmisch, so daß der sonst leichte und harmlose Nieselregen, der aus dem einheitlich grauen Himmel fällt, unangenehm hart und fast horizontal in die Gesichter prasselt. Trotzdem scheinen die Passanten nicht eilig und hektisch, sondern nur zielstrebig durch die Pfützen zu stapfen.

Doch vor dem Hauptbahnhof büßen die Schritte ihre sichere Zielstrebigkeit ein und schlagartig werden sie demonstrativ gelassen. Souverän stehen dort drei Polizisten im Portal und haben zusammen mit Helm, Pistole, Schlagstock und Bleiweste nichts zu tun, außer da zu sein.

Man achtet darauf, beschäftigt, aber nicht geschäftig zu wirken und die Ordnungshüter zu übersehen. Man verhält sich so normal, ernst und unauffällig wie möglich, teils normaler, ernster und unauffälliger als sonst. Wachsam versuchen alle die Neugierde und Unsicherheit zu verbergen, so daß nun beide in der schweren Luft der warmen Bahnhofshalle liegen.

Auf solche Weise halten die grünen Uniformen angelehnt, rauchend den ganzen Bahnhof in Atem. Die Polizisten bemerken das, strecken stolz Brust und Bauch noch weiter hervor und klemmen die Daumen hinter die breiten Gürtel.

Schließlich wird es den Polizisten aber langweilig; sie holen ihre Daumen wieder hinter den Gürteln hervor. Sie beginnen lässig zu scherzen und lächeln, können aber die Atmosphäre nicht entspannen, denn die Passanten, ernster und normaler als sonst, fühlen sich durchschaut, erschrecken und flüchten beschäftigt.

Auf dem Bahnsteig löst sich die Anspannung. Sogleich setzt man eine hochnäsig entnervte Mine auf und demonstriert so, daß man wartet. Dann entdeckt man aber etwa 20 Uniformierte jeweils links und rechts hinter dem Bahnhofsgebäude. Die Entfernung ist groß genug, so daß die Neugierde mit der Zahl der Polizisten wachsen darf und die Unsicherheit zu versteckter Mißbilligung werden kann.

Außerdem dürfen die Blicke endlich unverhohlen schweifen; sie fixieren die Polizisten und inspizieren die Mannschaftswagen, die sich hinter dem Gebäude des Verkehrsamtes verbergen.

Eine Blondine in Joggingsanzug glotzt in totaler Konzentration zu den Grünen hinüber, ein dunkelhäutiger Alter auf der Sitzbank runzelt bedenklich die Stirne, ein Schulmädchen spukt aus und die Rentnerin mit der Einkaufstüte erlaubt sich jetzt zu gähnen ohne den Mund zu bedecken.

Der Abstand zu den Polizisten ist sogar groß genug, um eine vierjährige gewähren zu lassen, als sie entsetzt schreit "Mama, die geh`n ja über die Gleise!". Erst als sich die beiden Uniformierten lachend umdrehen und der Kleinen zuwinken, wird die Mutter barsch.

Auf dem Bahnsteig gegenüber unterhalten sich zwei schlecht gekleidete Mitfünfziger. Der eine - hager, mit riesiger Brille und Pomade im verbliebenen dunklen Haar - umfaßt mit beiden Händen eine geöffnete Sektflasche, der andere - ein Riese mit blondem Schnauzer und kurzgeschorenem Haar rutscht nervös auf der Bank hin und her, streicht sich über den beachtlichen Bauch und fingert an seiner Bierdose herum.

Plötzlich, ohne Vorwarnung oder ersichtlichen Grund fängt der Riese an zu brüllen: "Ich hau` die auf die Schnauze, die Eierköppe!". Und mit einem Mal herrscht Stille und Starre auf den Bahnsteigen.

Blitzschnell reagiert das Publikum: Die Blondine im Joggingsanzug dreht sich um, stellt ihren Rucksack ab und beginnt darin herumzukramen, die Stirn des dunkelhäutigen Alten ist jetzt wieder glatt und sein Blick geht auf einmal gedankenverloren durch die Polizisten hindurch, die er eben noch genau gemustert hatte. Die spuckende Schülerin sucht hektisch nach Feuer, zündet sich dann endlich ein Zigarette an und beginnt schließlich mit ihrer Bekannten, die bis dahin geschwiegen hatte, eine Unterhaltung über das "Sauwetter". Die Rentnerin geht unterdessen nicht zu langsam, nicht zu schnell auf das Plakat mit den Abfahrtszeiten der Züge zu, beginnt mit dem Lesen, kann aber nicht umhin, einige Male verstohlen in Richtung des brüllenden Riesen zu blinzeln.

Der Wind trägt Wortfetzen des Mannes mit der Sektflasche herüber, der flüsternd seinen Freund zu beruhigen versucht: "...nich` so laut ... das sin` doch viel zu viele!" Doch der Brüller läßt sich davon nicht beeindrucken: "Da sollt ma` mit der Panzerfaust alle umpusten, die Schweine!"

Von irgendwoher wird unabsichtlich zu lauten kommentiert: "... hat doch recht ..."

Der mit der Sektflasche tätschelt das Knie seines Freundes und redet weiter auf ihn ein. Der Brüller schreit immer noch mit riesigem, tiefem Klangvolumen, wird aber jetzt langsam auch weinerlich und klingt kehliger. "Ich hab` `nen Haß auf die, weil ich bin was besseres, wie die. Ich hau die auf die Fresse!" Der verzweifelte Brüller ist den Tränen nah: "`nen Haß hab ich. Ich hab Zuhause alles, ich bin was besseres, egal wie se` glotzen!"

Tatsächlich konzentriert sich inzwischen die ungeteilte, unverhohlene Aufmerksamkeit der Polizisten auf den Brüller. Drei von ihnen setzen sich gemächlich in Bewegung und schreiten nun ganz langsam den Bahnsteig auf und ab. Die rechte Hand auf dem Schlagstock, der Daumen der Linken hinter dem Gürtel und den Kopf erhoben setzen sie schweigend ernste, drohende Minen auf und verlangsamen ihren Schritt noch mehr, wenn sie an den Brüller und seinen Freund vorbeiziehen.

Der Brüller schweigt jetzt, hat die Knie aneinandergepresst und die Hände daraufgelegt, reckt den Uniformierten aber seinen finster frechen Gesichtsausdruck entgegen. Die Situation ist zu brenzlig, als daß das Publikum die Neugierde und Spannung überspielen könnte. Die Blicke sind starr auf die Szene gerichtet, Gespräche über das Wetter sind unterbrochen und die Bewegungen der Leute sind genauso eingefroren wie die des hockenden Brüllers.

Nur der tätschelnde, tuschelnde Freund des Riesen und eine bedauernswerte Mutter machen sich nicht durch Bewegungslosigkeit unsichtbar. Sie muß sich zwischen den Mannschaftswagen hinter dem Verkehrsamt hindurchzwängen, während ein junger Polizist wohlwollend lächelnd wartet, bis der Weg für ihn frei ist. Als sie mit dem langsamen Kind die Busse endlich passiert hat, lächelt die Mutter gezwungen zurück. Das Kind entdeckt jetzt den restlichen Pulk von Uniformierten rechts neben dem Bahnhofsgebäude, bleibt stehen, will schauen, wird weitergezerrt.

Die Starre hält endlos an, keiner wagt es, sie zu durchbrechen, bis die drei Polizisten doch ein Einsehen zu haben scheinen und den Bahnsteig verlassen.

Wieder ist man jetzt mit seinen Taschen, Kaugummis, Zigaretten und Fahrplänen beschäftigt. Der dunkelhäutige Alte zückt sogar eine Buch. Langsam entspannt sich die Stimmung sogar soweit, daß man wieder die Polizisten beäugt und seiner Mißbilligung durch eine gelangweilte, verächtliche Mine Ausdruck verleiht.

Doch schließlich tauchen vor dem Brüller zwei Herren mit der blauen Uniform der Bundesbahn und dem Barett von Wach- und Schließgesellschaften auf. Sie fordern den Riesen und seinen Freund beim ersten Mal bestimmt, beim zweiten Mal drohend auf, sich zu "verpissen".

Das Publikum ist diesmal auf den Wechsel der jeweils angebrachten Verhaltenskonvention besser vorbereitet. Man beschäftigt sich ein wenig intensiver mit dem schon begonnen Inspizieren von Taschen, fingert gelassen die dritten Zigarette hervor und ist bei der Suche nach Feuer nicht so nervös und hektisch wie vormals. Blicke in Richtung des Brüllers oder der Polizisten werden unauffällig vermieden und die wieder aufgenommene Unterhaltung über das "Sauwetter" scheint jetzt angeregter zu sein.

Der Brüller sitzt zunächst starr, ohne auf die beiden blau Uniformierten zu achten. Dann trottet er aber dem Freund hinterher, der mit seiner Sektflasche in Richtung Treppe stolziert. Der mit der Sektflasche schimpft noch einmal kräftig "Arschlöcher", bevor sich das peinlich berührte Publikum verschämt in ein Zugabteil verkriechen kann.