Unbekannte Wesen
Über menschlichen Umgang mit Computern
Zum General gehört die Uniform, zum Fürsten das Zepter; kein Cowboy ist ohne den entsprechenden Hut denkbar. Als Attribute definieren Dinge den sozialen Status, die soziale Rolle und zeigen dadurch an, wie einer Person gegenüberzutreten ist. Dinge repräsentieren die "selbstverständlichen" Regeln des sozialen Umgangs; sie produzieren und bilden gesellschaftliche Ordnung. Die Dinge sind also nicht nur das Feld für den instrumentellen Gebrauch, sondern auch das Äußere des sozialen Erlebens, das Spielfeld der individuellen Selbstverwirklichung innerhalb der Gesellschaft (vgl. Lorenzer, Alfred (1981): Das Konzil der Buchhalter. Frankfurt/Main: Suhrkamp: S. 19). Für Hannah Arendt ist der Menschen ein "be-dingtes" Wesen (vgl. Arendt, Hannah (1960): Vita Activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer: S. 133). Alle Dinge, die er produziert oder auffindet, werden sozusagen zur Be-ding-ung des Selbst. Die Dinge produzieren und reproduzieren ihre eigenen Produzenten. "Homo faber" produziert die Dinge nicht nur zum Gebrauch, sondern um sich in ihnen wiederzufinden. Dazu tritt er mit den Handlungsanweisungen, welche die Dinge vorgeben, in enge Interaktion. Der Sportsitz des schnellen Autos gibt eine dem Habitus entsprechende Haltung des Körpers vor. Der Haltungs- und Handlungsvorgabe des Sitzes kann man folgen, man kann mit ihr spielen - wie die Kinder auf der Rückbank – oder sie ablehnen und "aussteigen". Die Interaktion mit Dingen konfrontiert mit der Erwartungshaltung, den Wert- und Wunschvorstellungen der sozialen Umwelt, die spielerisch verändert, abgelehnt oder aktzeptiert und verinnerlicht auf die Form des Ichs Einfluß nimmt.
Technische Neuentwicklungen brachten in der Geschichte gesellschaftliche Umwälzungen mit sich. Wir selbst sind Zeitzeugen einer wichtigen Innovation der Technik, ein neues Ding ist da: der Computer. Wie gehen wir mit der neuen Technik um? Und wie geht sie mit uns um, welchen Einfluß nimmt sie auf uns?
Der Gebrauch eines Computers eröffnet neue Möglichkeiten der Interaktion, welche über die beschriebenen hinausgehen. Bezeichnenderweise wird der Computer nicht mehr so selbstverständlich als Ding betrachtet, wie die bisherigen Produkte der Industriegesellschaft. Von dem Techniksoziologen Bernward Joerges rechnet den Computer zwar der dinglichen Kultur zu - ein Ding ist für ihn alles, was uns Widerstand entgegensetzt, was greifbar und hart ist (vgl. Joerges, Bernward (1996): Technik, Körper der Gesellschaft. Arbeiten zur Techniksoziologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp: S. 15). Doch wie steht es mit der Software, die zwingen zum einem Computer gehört? Csikszentmihalyi wählt eine erweiterte Definition des Begriffs. Ein Ding ist dabei jede Information, welche sich mit erkennbarer Identität im Bewußtsein abzubilden vermag. Es evoziert durch hinreichende Kohärenz oder seine innere Struktur ein Sprachschema oder ein konsistentes Abbild (vgl. Cszikszentmihalyi, Mikaly (1989): Der Sinn der Dinge. Das Selbst und die Symbole des Wohnbereichs. München/Weinheim: Psychologie Verlags Union: S. 32). Eine solche Begriffsbildung wird der Eigenschaft des Rechners gerecht, erst durch die Verbindung der Hardware mit Software zur Maschine zu werden (vgl. Schachtner, Christina: Between Deconstruction and Construction. Contradictionary Body Experiences in Software Developement. In: Hoffmann, Ute (1997): Not without a Body? Bodily Function in Cyberspace. Berlin: Schriftenreihe der Abtl. "Organisation und Technikgenese" des Forschungsschwerpunkts Technik-Arbeit-Umwelt am WZB: S. 16 f.). Die Funktion von Maschinen definiert sich durch ihre Mechanik. Die Möglichkeiten von Computern beschränken sich nicht auf eine solche Funktionslogik. Je nach Software wird der Rechner zu verschiedenen Maschinen; der Computer ist Schreibmaschine, CD-Player, Kopierer, Rechenschieber, Zeichenbrett... In dieser Vielfalt zeigt sich eine Struktur der Ambivalenz des Computers. Sogar die Trennung zwischen Maschine und Mensch wird von dieser Unbestimmbarkeit tangiert. Dies hat Folgen für alle, die mit dem Computer interagieren. Der Computer delegiert seine Unbestimmbarkeit, die Ambivalenze, die er verkörpert, an dem Benutzer.
Kommunikation am Computer
Deutlich zeigt sich das in der Kommunikation in Chat-Räumen (Chat meint Echtzeitkommunikation per Tastatur). Bei der Benutzung des eigenen Chatprogramms WELL vermittelt sich Howard Rheingold das Gefühl, eine Stammkneipe zu besuchen (vgl. Rheingold, Howard: Der Alltag in meiner virtuellen Gemeinschaft. In: Faßler, Manfred/Halbach, Wulf R. (1994): Cyberspace. Gemeinschaften, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten. München: Fink Verlag: S. 95-121). Rheingold nimmt den Chat als freundschaftliches Treffen war. Die Teilnehmer tratschen, philosophieren, helfen einander und treffen sich im Chatroom zur verabredeten Zeit zum "gemeinsamen Frühstück" – doch sie werden sich wahrscheinlich niemals Angesicht zu Angesicht begegnen. Die Teilnehmer an der Netzkommunikation befinden sich sowohl auf dem Stuhl vor ihrem Computer, als auch im virtuellen Raum des Chats. Sie balancieren zwischen der Welt ihres Wohnzimmers oder Arbeitsplatzes und dem virtuellen Raum des Chats. "Mit der informationstechnischen Vernetzung eröffnet sich hinter dem Bildschirm (..) ein neues Zimmer der Realität, eine neuartige Zone des Bewohnbaren" (Hoffmann, Ute : Die erträgliche Leichtigkeit des Seins. In: Voß, Günther/Pongratz, Hans J. (1997): Subjektorientierte Soziologie. Opladen: Leske + Budrich: S. 100). Der Begriff vom Raum, der von den Teilnehmern an der Netzkommunikation selbst geprägt wurde, geht über die Kategorien des Geographischen hinaus. Er umschreibt eher Bedeutungszusammenhänge, die durch die Interaktion der Teilnehmer entstehen. Das es psychischen Energien sind, die einen Raum konstitutieren, erkannte schon Georg Simmel. Raum ist für ihn die "Tätigkeit der Seele", welche die "menschliche Art bezeichnet, an sich verbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden". Damit sind Grenzen keine räumliche Phänomene mit soziologischer Auswirkung. Sie sind soziale Phänomene, die sich räumlich formen (vgl. Simmel, Georg (1922): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. München/Leipzig: Duncker & Humblot: S. 467). Die Ambivalenz am Computer zeigt sich im gleichzeitigen Erleben des Raums vor dem Schreibtisch und des Raums im Chat. Das wird deutlicher, wenn es zum Bestandteil des Chats wird sich mitzuteilen, was man zeitgleich offline tut, während man im Chatroom agieren. Beide Räume überlagern sich. Benutzer im Netz befinden sich in Räumen, an dem sich unterverschiedliche soziale und kulturelle Kreise begegnen und dadurch eine eigene Dynamik entwickeln kann, welche die Prämissen des Denkens in Frage stellt. Grenzen erodieren, Eindeutigkeit wird zu Mehrdeutigkeit, gewohnte Bedeutungsstrukturen werden sinnlos. Wer im Chat interagiert und Bekanntschaften macht, lernt also, bei der Kommunikation verschiedene Deutungen in der Schwebe zu halten und in der mit dem jeweiligen Gegenüber auszutarieren, inwieweit die Regeln, Wertevorstellungen und Normen der Offline-Welt ihre Gültigkeit. Netzkontakte knüpft man schnell. Die Anwesenheit im Netz signalisiert Gesprächsbereitschaft. Gelöst von den Regeln, welche offline die Gefühle kanalisiert, entsteht im Netz schnell auch Intimität. Den anderen nicht zu sehen, beflügelt die Phantasie und rufen ein Königskinderphänomen hervor (vgl. Reisch. Elisabeth (1997): Vernetzte Herzen. Chat, Flirt und Leidenschaft im Cyberspace. Düsseldorf/München: Econ Verlag: S. 31). Die Unmöglichkeit, sich offline zu treffen, aber dennoch jederzeit in Kontakt treten zu können, mag den Hot Chat (Sex beim Chat) leidenschaftlicher machen. Sie entbindet aber gleichzeitig von Verantwortlichkeit in der Online-Beziehung. Roswitha Casimir berichtet von großer Enttäuschung und Depression, als der Chat-Teilnehmer mit dem Pseudonym Claude die Liebesbeziehung zu ihr beendete. Er meldete sich einfach nicht mehr: "Insgesamt war ich fünf Stunden ohne Unterbrechung in dem Forum, beteiligte mich an keinem Gespräch, sondern saß nur da, blickte auf den Bildschirm und wartete auf Claude. Aber er kam nicht (...). Ich bin ihm nie wieder online begegnet" (Casimir, Roswitha/Harrison, Roger (1996): Cyberrom@nzen. Online-Beziehungskisten und Partnersuche im Internet. Mannheim: Bollmann Verlag: S. 112 ff). Die Betrachtung der Erfahrungen von Netzbenutzern weist auf deren Ungewissheit über die Art ihrer Beziehungen im Netz und über eigenen Gefühle, die mit diesen Beziehungen verbunden sind. Verstärkt wird die emotionale Verwirrung von der Unsicherheit bezüglich der Identität des Kommunikationspartners. Das wird in folgender Chat-Sequenz deutlich:
"(21. Juli 1992)
Barry says, ‘Are you still holding out on me?’.
Julia says, ‘ I mean, have I convinced you I’m computer, yet?’.
Barry says, ‘I guess you’re real ... but I still like to get you to my DEN to run tests on you’.
Julia says, ‘I live for your approval, Barry’.
Barry says, ‘I’m so glad to hear that. Why don’t you come over to my home?’
Julia says, ‘I want to have a child someday’.
Barry says, ‘What a coincidence ... I too wish to make a baby ... some day.
Julia says, ‘The date is Tue, Jule, 21, 23:57:31, Barry!’."
(vgl. U. Hoffmann 1997: 108 ff.)
Innerhalb dieses MUDs (Sprachbasiertes Spiel, bei dem Teilnehmer in die Rollen von Wesen einer Fantasywelt schlüpfen und wie beim Chat in Echtzeit per Tastatur kommunizieren) hat sich Julia durch die allzu genaue Zeitangabe als Computerprogramm entpuppt. Es gibt viele derartige Software-Agenten, die von Unternehmen zur "Marktananlyse", also zu Spionagezwecken in Chatrooms platziert werden. Der Teilnehmer Barry ahnt bereits, dass er es mit einer Maschine zu tun haben könnte. Spielerisch spricht er also seine Zweifel über die Identität seines Gegenübers und mit Ironie an. So oder ähnlicher Weise berücksichtigt die Kommunikationsverhalten im Chat die Unklarheit über die Identität anderer Teilnehmer. In der hergebrachten Kommunikationssituation besteht Klarkeit über das Geschlecht, das Alter und das Aussehen des Gesprächspartner. Doch im Netz verlieren die Dualismen Mann/Frau, alt/jung, schön/hässlich ihre Bedeutung. Die Uneindeutigkeit der Interaktion im Netz mag manchen überfordern, andere verinnerlichen sie, wie der 15jährige, der innerhalb seines Computerspiels in die Rollen verschiedener Akteure schlüpft und sich in der Folge als eine "Mehrcharakterperson", eine "Art Allrounder" bezeichnet (vgl. Schachtner, Christina: Between Deconstruction and Construction. Contradictionary Body Experiences in Software Developement. In: Hoffmann, Ute (1997): Not without a Body? Bodily Function in Cyberspace. Berlin: Schriftenreihe der Abtl. "Organisation und Technikgenese" des Forschungsschwerpunkts Technik-Arbeit-Umwelt am WZB: S. 138). Ähnliche Phänomene beobachtet man in MUDs. So schlüpft ein US-amerikanischer Student online regelmäßig in eine seiner vier Rollen innerhalb verschiedener MUDs: die Rolle der verführerischen Frau, des Machos, die Rolle einer Karotte oder die eines pelzigen Tier, das verbotene Wünsche auslebt. Er meint dazu: "Ich kann mich selbst sehen als sei ich zwei oder drei oder mehr" (zit. n. Turkle, Sherry (1995): Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet. London: Weidenfeld & Nicolson: S. 11). Nach Turkle ermöglichen MUDs und Chatrooms durch den Identity-Switch der Teilnehmer eine Entdeckungsreise zum Selbst (vgl. Turkle, Sherry (1995): Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet. London: Weidenfeld & Nicolson: S. 11). Mit dem Ende der Adoleszenz sollte nach der Identitätstheoretie Eriksons die Lust auf solche Spiele befriedigt und eine gegen andere abgegrenzte Ich-Identität gefunden sein (vgl. E. Erikson, Erik (1966): Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/Main: Suhrkamp: S. 139). Doch Identity-Switch, besonders der Wechsel der Geschlechtsidentität ist innerhalb aller Altersgruppen ein überaus beliebtes Spiel unter MUD-Benutzern. Während unter registrierten Benutzern das Zahlenverhältnis zwischen Frauen und Männern bei 4:3 liegt, trifft im MUD-System Habitat mit seinen etwa 1,5 Millionen Nutzern eine weibliche Figur auf durchschnittlich drei männliche Figuren. Demzufolge frönen Zehntausende von Spielerinnen einem "virtuellen Transvestismus" (Turkle, Sherry (1998): Leben im Netz. Identitäten in Zeiten des Internet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt: 343), der gemäß hergebrachter Identitätskonzepte als pathologisches Bedürfnis geprüft werden müßte. Stellt man sich Identität jedoch als einen ständigen, nicht zu vollendenden Prozeß vor, wirft dies ein anderes Licht auf den Wechsel der Geschlechtsidentität im Netz, das Gender-Swapping. Identität ist eine Konstruktion, die von gesellschaftlichen Gegebenheiten geformt wird. Unserer Gesellschaft konstruiert Identität maßgeblich durch die Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit. "Doing gender" schreibt Individuen eindeutig den Kategorien Männlich oder Weiblich zu und verlangt ihm ein entsprechend eindeutig "weibliches" oder eindeutig "männliches" Verhalten ab. Der Verlust solcher Eindeutigkeit im Netz erschließt Benutzern eine Sphäre zwischen – oder besser über Männlich- und Weiblichkeit. Durch Gender-Swapping entdecken sie neue Erlebnismöglichkeiten. Geschlechtlichkeit folgt im Netz nicht mehr zwangsläufig den binären Vorstellungen, sondern wird als mehrdeutig und ambivalent konstruiert. Bleibt also die Frage, inwieweit diese Experimente im Netz sich auch auf den Geschlechterdiskurs, die Konstruktion von Geschlechtlichkeit offline bedeutsam werden könnten. Die Sicherheit eines dualistischen Denkens, das Beruhigende von Eindeutigkeiten wird man wohl weder schmerz- noch kampflos aufgeben (vgl. Sh. Turkle 1995: 263). Doch haben Phänomene wie der Identity-Switch zumindest insofern Auswirkungen, als eine Post-Gender-Welt überhaupt erdacht werden kann.
Leben am Computer
Anders als in der Netzkommunikation interagieren Individuen beim Entwickeln von Software nicht miteinander durch den Computer, sondern mit der Maschine selbst. Das Denken verschränkt sich während des Programmierens mit denjenigen Denkmustern, die sich bereits in der Maschine manifestieren. Was vor dem Eingeben des Codes bloß der Gedanke des Programmierers war, bildet sich nun als Code nun auf dem Bildschirm und in der Maschine ab. Der Programmierer hat mithin Erlebnisse, die über den Eindruck des Künstlers, in seinen Werken weiterzuleben, hinausgehen mögen. Der Mensch verschmilzt vollends mit seinem Werk, der Maschine: "Also, ich meine, in jedem Programm erscheinen meine Gehirnstrukturen, stelle ich mir vor, kommen da wieder raus. Das finde ich das Ergreifende" meint ein 19jähriger Entwickler (zit. n. Schachtner, Christina (1993): Geistmaschine, Faszination und Provokation am Computer. Frankfurt/Main: Suhrkamp: S. 41). Eine Anzahl einzelner Programmierern arbeitet derzeit an dem mutigen Projekt, das gesamte Ich durch ein Computerprogramm repräsentieren und weiterleben zu lassen. Angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten mag das derzeit lediglich von jenem Realitätsverlust zeugen, den so manches Genie erleidet. Andererseits handelt es sich um die ersten professionelleren Versuch der Menschheit, E.T.A Hoffmanns Sandmann und Frankenstein endlich aus dem Reich der Fantasie zu befreien und auf die reale Welt zu bringen. In der modernen Medizin wimmelt es schon jetzt von Cyborgs, Verbindungen aus Organischem und Mechanischem, die - wie Donna Haraway meint, "mit einer Intimität und einer Macht miteinander verbunden sind, wie sie die Geschichte der Sexualität nicht hervorzubringen vermochte" (Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt/Main: Campus: S. 34). Dabei spielt doch Geschlechtlichkeit bei den Konstruktionen aus Organismus und Maschine oft keine Rolle. Die Cyborgs der Science Fiction können den binären Geschlechtercode unterwandern. In ihrer Mehrdeutigkeit und Ambivalenz durchbrechen sie die Diskursordnungen, die unserer Gesellschaft zugrundeliegen. Für Donna Haraway sind Cyborgs die ersten Geschöpfe einer Post-Gender-Welt, einer Welt die Menschen nicht mehr eindeutig in weibliche und männliche unterteilt, in der das Geschlechterverhältnis kein Herrschaftsverhältnis bleibt. (vgl. Gunzenhäuser, Randi: Gibt es eine Position außerhalb des Diskurses? Zu Michel Foucault und Donna Haraway. In: Haas, Erika (1995): "Verwirrung der Geschlechter". Dekonstruktion und Feminismus. München/Wien: Profil Verlag: S. 79). Die wenigsten Schwierigkeiten beim Umgang mit den neuen Wesen haben – wen wundert es – die Kinder: Spielzeugpuppen gab man nicht nur eine solide Kampfsportausbildung mit auf ihren Weg in die Kinderzimmer, sondern auch die Fähigkeit, sich computergestützt in Mischwesen aus Mensch, Maschine und Tier zu verwandeln. Die Meinungen der Kinder über die "Power Ranger"-Puppen gehen zwar auseinander, doch die Mehrzahl dürfte für einen liberalen Umgang mit den ambivalenten Wesen plädieren: "Es ist nichts dabei, mit ihnen zu spielen, wenn sie halb das eine, halb das andere sind" (zit. n. Turkle, Sherry (1998): Leben im Netz. Identitäten in Zeiten des Internet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt: S. 277).
Nicht nur freie Programmierer, Autoren von Science Fiction und Kinder beschäftigen sich mit Mensch-Maschine-Kreationen und künstlichem Leben. Einen der ersten Erfolge der Artificial-Life-Forschung erzielte Ende der sechziger Jahre der Mathematiker John Conway mit seinem Programm "Game of Life". Das Computerspiel generiert evolvierende Strukturen, die sich selbst reproduzieren und deren Weiterentwicklung offen bleibt. Auf dem Bildschirm entstehen zeitgemäß psychedelische Formen höherer Ordnung, denen aber der durchschnittliche Benutzers nicht zugestehen würde, dass sie lebendig seien. Artificial-Life-Forscher definieren Leben eben anders als die meisten Alltagstheorien. Auf ihrer Konferenz von Alamos kamen sie 1987 überein, daß lebendige, künstliche Organismen folgende Eigenschaften aufweisen müssen:
- Sie müssen eine Evolution durch natürliche Auslese durchlaufen
- Sie müssen ein genetisches Programm besitzen, in dem die Anweisungen für ihre Funktionsweise und ihre Reproduktion niedergelegt sind
- Sie müssen ein hohes Maß an Komplexität aufweisen
- Sie müssen sich durch Selbstorganisation auszeichnen
(vgl. Turkle, Sherry (1998): Leben im Netz. Identitäten in Zeiten des Internet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt: S. 243).
A-Life-Forschung entwickelt komplexe Systeme nach einem Buttom-Up-Ansatz. Sie legt bei Einzelzellen evolvierendes Verhalten an, damit diese durch ihre Vermehrung, ihr Zusammenspiel und ihre Veränderung im Prozess der Evolution intelligente Gesamtsysteme hervorbringen. Eine solche Methode ist das synthetische Pendant zur biologischen Konzept etwa des Ameisenstaats, dessen Leistung nicht auf der Intelligenz des einzelnen Insekts, sondern auf der des Systems, des Zusammenspiels beruht. KI-Forschung reproduziert dagegen in Computerprogrammen die dynamischen Prozesse eines neuronalen Netzes wie dem Gehirn. Beim Versuch, der Maschine das Denken zu ermöglichen, verfolgt sie also eher eine Top-Down-Methode. Die Systeme, die beide Forschungsrichtungen bisher hervorbrachten, sind nicht so leistungsfähig, dass die Menschheit fürchten müßte, sich in absehbarer Zeit nicht mehr als die Krone der Schöpfung aufspielen zu dürfen. Doch erschüttern die A-Life-Systeme die Vorstellungen von Lebendigkeit. Kinder werden durch solche Programme animiert, eine neue Sprache, neue Wörter zu erfinden, die den synthetischen Geschöpfen gerecht werden (vgl. Turkle, Sherry (1998): Leben im Netz. Identitäten in Zeiten des Internet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt: S. 273). Dabei benutzen sie gleichzeitig technischen und psychologische Begriffe, beschreiben die A-Life-Systeme gleichzeitig als künstlich und als lebendig. Das was bisher unvereinbar und undenkbar war, können sich Kinder innerhalb einer Mischexistenz zusammengeführt denken, deren Ambivalenz sie wie selbstverständlich akzeptieren.
Die Welt am Computer ist durch Mehrdeutiges und Ambivalentes geprägt. Die abwehrende Reaktion darauf delegiert die Ambivalenz allein an eine Virtualität, die strikt getrennt von der Realität gedacht wird (vgl. Münker, Stefan/Roesler, Alfred (1997): Mythos Internet. Frankfurt/Main: Suhrkamp: S. 117). Der Wunsch nach klaren Dichotomien macht es schwer zu aktzeptieren, dass die Ausdifferenzierung von Technik und Gesellschaft der Moderne längst ein Spektrum von Territorien der Wirklichkeit aufgefächert hat, die allesamt sinnvollerweise weder als fiktiv noch als wirklich gelten können – sich diesen Begriffen entziehen (vgl. Flusser, Vilém: Vom Virtuellen. In: Rötzer, Florian/Weibel, Peter (1993): Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk. München: Klaus Boer Verlag: S. 70). Die Welt des Computers bleibt trotz aller Mehrdeutigkeit, die in ihr augenfällig wird, genauso real wie jeder andere Raum menschlicher Erfahrung.