Erinnerungsstücke

Eine Ausstellung in der Universitätsbibliothek zeigt die Geschichte der Familie Jacobsohn.

Vergilbte Ansichtskarten aus dem Urlaub hängen neben einem letzten Gruß vor der Deportation nach Ausschwitz: "Telegramm, Deutsche Reichspost: Abreise Donnerstag / Sind zuversichtlich / Herzliche Grüsse – Ruth". Das letzte Lebenszeichen der Schwester Hermann Jacobsohns dokumentiert wie zahlreiche Briefe und Fotos die Geschichte der assimilierten jüdischen Familie Jacobsohn in Marburg. Zu sehen sind die Erinnerungsstücke der Familie während der Ausstellung "Leben Sie?" in der Universitätsbibliothek: Schulzeugnisse, Kinderschuhe, Zeitungsausschnitte, Postkarten und der kleine Teddybär aus dem Jahr 1911.

Die Witwe des Marburger Indogermanisten Professor Hermann Jacobsohn, Margarethe Jacobsohn hatte all die Dokumente aufbewahrt. Ein umfangreicher Weihnachtswunschzettel in kantiger Kinderschrift zeugt vom Aufstieg und Wohlstand der deutsch-jüdischen Familie im wilhelminischen Kaiserreich, Portraitfotos mit Uniform dokumentieren den Kriegsdienst der männlichen Jacobsohns. Die Postkarten der patriotischen Familie zeigen den Kaiser zu Pferde, "General-Feldmarschal von Hindenburg" am Schreibtisch und während des Ersten Weltkriegs die Zeichnung eines fröhlichen Soldaten: "Ins Feld!" Doch die Kriegsbegeisterung schwand, Briefe an Soldaten kamen unbeantwortet zurück. Auf dem zerknitterten Feldpostbrief Hermann Jacobsohns an einen Kollegen ein verschmierter Vermerk in altdeutscher Handschrift: "Gefallen fürs Vaterland."

Durch die privaten Schriftstücke der Familie verdeutlicht sich deutsche Geschichte. Antisemitischen Anfeindungen war die Familie seit den 1920er Jahren ausgesetzt, 1933 entließen die Nationalsozialisten Hermann Jacobsohn aus dem Universitätsdienst. Diese Schmach für den international anerkannten Wissenschaftler trieb Hermann Jacobsohn zwei Tage später in den Selbstmord, er warf sich vor einen Zug. Hermann Jacobsohn war Leiter des deutschen Sprachatlasses der Philipps-Universität. Professor Dedner, der die Ausstellung mitbetreut, meint hierzu: "Die Geschichte der antisemitischen Säuberungen an der Universität ist noch nicht hinreichend aufgearbeitet worden!" Erst seit kurzem beschäftigen sich die Fachbereichen der Universität mit ihrer Geschichte im Dritten Reich. Die Ergebnisse der Studien, die die Universitätsleitung in Auftrag gegeben hatte, sollen 2002 zum Jubiläum der Philipps-Universität präsentiert werden.

Die privaten Erinnerungstücke zeigen vor allem den Überlebenskampf Margarethe Jacobsohn und ihrer Kinder, die Demütigung und Ermordung anderer Familienmitglieder. Margarethe Jacobsohns Schreibheft mit Sprüchen ihrer Kinder, die Pappschachtel mit den Haarlocken der Kinder, aber auch die braunen Briefmarken mit dem Portrait Hitlers und der Arierausweis mit Ahnenpaß machen die Geschichte der Familie anschaulich. Reichsadler, Hakenkreuze, Stempel auf einer kurzen Mitteilung der NSDAP an die GESTAPO: "Verkauf des Gartengrundstücks der Jüdin Ruth Weinberger an Hermann Wiblishauser, Bankprokurist... Heil Hitler! Der Gauwirtschaftsberater". 1943, ein Jahr nach ihrer Enteignung wurde Ruth Weinberger, die Schwester Hermann Jacobsohns, in Ausschwitz zusammen mit ihren Kindern ermordert. Neben den Akten der GESTAPO hängen die Fotos der Ermorderten: ein siebenjähriges Mädchen, das sich lächelnd an einen großen Teddybären drückt, und ein Zwölfjähriger in Denkerpose.

Der Fund dieser Dokumente brachte Ruth Verroen, die Enkelin von Margarethe und Hermann Jacobsohn, auf die Idee, eine Auswahl davon öffentlich zu zeigen. Aus der Zusammenarbeit mit der Historikerin Waltraud Burger und mit Richard Stumm entstand eine kleine, aber sehenswerte Ausstellung. Sie wirft jene Frage neu auf, die ein verschollener Bekannter 1946 an Margarethe Jacobsohn schrieb: "Leben Sie?" – Für die Gegenwart müssen wir fragen: leben sie in der Erinnerung?

Die Erinnerungsstücke an die Jacobsohns sind noch bis zum 27. Februar im Foyer der Universitätsbibliothek zu sehen. Seit 18. Januar werden auch in der Brüder Grimm Stube Zeitdokumente aus dem Nachlaß der Jacobsohns ausgestellt.