Der Brief

Luise begann nun immer neugieriger zu dem Brief ihres Vaters zu schielen. Werner versuchte sie verzweifelt mit irgendeinem hoch interessanten Gesprächsthema abzulenken und begann in seiner Aufregung, Schlagzeile für Schlagzeile der aufgefalteten Zeitung anzusprechen. Eigentlich hätte er wissen müssen, daß Luise **weder durch Greenpeaceaktionen noch durch ein Gipfeltreffen oder Sprengstoffanschläge in nächster Nachbarschaft zu beeindrucken **war. Ihr Blick blieb auf den Briefumschlag geheftet, so daß sie schließlich das scheinbar doch Unvermeidbare tat und Werner fragte, ob er den Brief nicht endlich öffnen **wolle. Werner stellte sich ihr Gesicht vor, sollte sie tatsächlich seinen an sich selbst adressierten Drohbrief zu lesen bekommen. Allein um sich diesen Anblick zu ersparen, würde er den Umschlag mit Zähnen und Klauen verteidigen. Vermutlich würde Luise garnicht erst annehmen, daß ein solcher Brief tatsächlich von ihrem Vater stamme, daher sofort einen Verdacht gegen Werner selbst hegen und ihn aus Rache und Enttäuschung mit einem großen Küchenmesser durchbohren. Sollte sie jedoch von der Schuld des Vaters ausgehen, so würde sie sich vor Kram vielleicht selbst etwas antun. Eine Tragödie schien also unausweichlich. Werner wählte das kleinste der Dramen und meinte, es handele sich um etwas geschäftliches, aus dem er Luise heraushalten müsse. Luise schien im ersten Augenblick beeindruckt, fachte ihn dann aber mit einem kräftigen Ausdruck von kindlichen Trotz an, er habe keinen Humor, sei ein Spielverderber und Geheimniskrämer, jedenfalls kein richtiger Freund. Werner versuchte mit seinem verkrampften Lachen die Situation irgendwie zu entschärfen, doch erreichte er damit bloß das Gegenteil. Luise sah in mit stechenden Blick an und meinte, **wenn er sie nicht ernstnehme, könne er auch nicht von ihr erwarten, selbst ernstgenommen zu **werden. Hierauf riß sie ihm den Brief aus der Hand und rannte unter alberenen Gelächter zur Tür.